Krisen, Kriege, Klimawandel. Warum man nicht gern über Zusammenhänge spricht.
Gewaltforscher Harald Welzer über persönliches Denken und Handeln in der aktuellen Zeit.
Carlowitz-Dialog , 13. Juni 2024, Raum Vulcanus im CCC mit Harald Welzer, deutscher Soziologe, Sozialpsychologe und Bestsellerautor
Immer wieder lassen sich rapide Veränderungen von Überzeugungen und Einstellungen in der Mehrheitsbevölkerung beschreiben, am drastischsten wohl im Deutschland von 1933 bis 1945. Harald Welzer, der sich in seinen früheren Studien viel mit solchen Phänomenen befasst hat, beschreibt diesen Prozess als „Shifting Baseline“ – eine Verschiebung des Grundverständnisses. Er trifft damit den Kern des übergeordneten Themas. Es gibt keine stabilen Referenzpunkte für persönliches Denken und Handeln. Perspektiven sind relativ, manipulierbar, fragil.
Bei der Suche nach den Ursachen für Kriege und Konflikte stößt man auf Verteilungskämpfe, den Drang nach Ressourcen und zunehmend auf den Wunsch nach Terrain und sicherer Umgebung im Rahmen des Klimawandels. Es stellt sich die Frage, warum die Erforschung der Klimawandelauswirkungen fast ausschließlich von Naturwissenschaftlern dominiert wird, und nicht stärker von den Sozialwissenschaften, die die Zusammenhänge zwischen großen historischen Ereignissen und gesellschaftlichem Stress erkennen und hinsichtlich ihrer politischen Folgen analysieren könnten.
Die Bedeutung eines intakten Klimasystems
Ein intaktes Klimasystem ist die Grundlage unseres Überlebens. Die Temperaturspanne, in der wir existieren können, ist begrenzt, und vielen Menschen ist nicht bewusst, wie schmal der Grat ist, auf dem wir wandeln. Seit etwa 50 Jahren gibt es mühsame Aktivitäten zum Umweltschutz und seit 30 zur Klimastabilisierung. Seit 2016 gelten die 17 Ziele der UN für nachhaltige Entwicklung, deren Umsetzung bis 2030 angestrebt wird. Doch der Krieg, die größte akute ökologische Katastrophe, bleibt dabei außen vor.
Die Realität der Kriegsführung und Klimabelastung
Moderne Kriege sind fossile Kriege, deren Ziel unter anderem fossile Infrastrukturen sind – eine Katastrophe aus humaner und klimatechnischer Sicht. 40% des CO2-Ausstoßes entstehen im Bereich Architektur, Abriss und Neubau, was klimatechnisch oft ignoriert wird. Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität wird an vielen Beispielen deutlich.
Zukunftsperspektiven und menschliche Herausforderungen
Harald Welzer hat kein generelles Rezept für die Zukunft. Wir stehen vor neuen, komplexeren Herausforderungen, die oft nicht vollständig verstanden werden und die Menschen verunsichern. Früher konnte man zuversichtlich für die nächsten Generationen planen; heute ist dies infrage gestellt. Viele ältere Menschen sagen, sie seien zum ersten Mal froh, bereits so alt zu sein – eine beunruhigende Aussage.
Je offensichtlicher die Klimafolgen werden, desto größer ist der Drang, sich davon abzuwenden. Wohlüberlegte Regulierung ist erforderlich. Wir fahren nicht mit 200 km/h durch Chemnitz, weil es klare Regeln gibt. Wir schlagen keine Kinder, weil es verboten ist. Die Ideologie des Marktes und der „Anreize“ schaffen solche Regeln nicht, dafür braucht es Ordnungspolitik.
Empfehlungen und Zukunftsvisionen
Welzer empfiehlt, einen Nachruf auf sich selbst zu verfassen, wie er es nach einem Herzinfarkt tat. Er überlebte und ist dankbar für diese Erfahrung. Seine Stiftung „Futurzwei. Stiftung Zukunftsfähigkeit“ ist eine Institution des Optimismus, die dazu anregt, Dinge vom Ende her zu denken.
Die Fähigkeit des Menschen, sich in die Zukunft zu projizieren, entwickelte sich relativ spät in der Menschheitsgeschichte. Auch die typisch Carlowitzsche Herangehensweise gilt es zu nutzen.
Über 20 Bücher und zahlreiche Veröffentlichungen von Harald Welzer erweitern den Horizont und ermutigen, sich dem Ungewissen zu stellen und mitzugestalten.
Eine sachliche und spannende Fragerunde bildete den Abschluss eines denkwürdigen Abends.
Dr. Dieter Füßlein fasste die Qualitäten des Vortragenden treffend zusammen: „Großer Denker – keine Angst.“ Dank an Harald Welzer und das zahlreiche Publikum im einzigen „aktiven Vulcan“ Sachsens.